Das Erzählthema der 4. Klasse an der Waldorfschule ist die nordische Mythologie. Bis ins Mittelalter mündlich weitergegebene und dann in Island zusammengetragene Erzählungen wurden in einer Liedersammlung zusammengefasst, der „Edda“. Die im Stabreim verfassten Schöpfungs-, Götter- und Heldensagen vermitteln eine Weltsicht, in der Götter, Riesen, Menschen, Zwerge und andere Wesen und Naturgewalten ihren Platz finden. Fast vollständig erhalten ist ein Schöpfungsmythos, den eine Seherin zu erzählen weiß. Sie beschreibt, dass eine Weltenesche namens Yggdrasil die Welt trägt. Die Welt gliedert sich in die Götterheimat Asgard, die Menschenheimat Midgard, das Land der Riesen Yötunheim und weitere Lebensräume.
Foto Tafelbild: Weltbild nordische Mythologie mit den Welten Midgard (Menschen), Asgard (Götter) und Yötunheim (Riesen), getragen von der Weltenesche Yggdrasil
Drei Wurzeln hat die Weltenesche Yggdrasil. Eine reicht bis zum Brunnen der drei Nornen. Sie heißen Urd, Verdandi und Skuld und sind am Urdbrunnen zu finden. Sie stehen vor Yggdrasil, der Weltenesche. Die drei weisen Frauen werden auch die „Schicksalsgöttingen“ oder die „Königinnen der Zeiten“ genannt, Urd schaut in die Vergangenheit, Verdandi regiert die Gegenwart und Skuld wendet sich der Zukunft zu.
Foto Tafelbild: Drei Nornen Urd, Verdandi und Skuld am Urdbrunnen vor der Weltenesche Yggdrasil
Gedicht: Die Zeiten
Drei Königinnen sind mir bekannt,
Urd, Verdandi und Skuld genannt.
Sie regieren drei Reiche, die Reiche der Zeit:
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – so weit.
Die Vergangenheit sagt mir:
Es war einmal schön,
es war schon gewesen,
es ist schon geschehn.
Die Gegenwart sagt:
Ich bin und ich tu,
ich arbeite fröhlich,
ich greife flugs zu.
Die Zukunft sagt schließlich:
Du sei bereit,
was werden wird,
ruht noch im Schoße der Zeit.
Doch ergreifst du die Gegenwart
mutig und schnell,
so wird, was auch kommen wird,
richtig und hell.
In der zweiten Deutschepoche der 4. Klasse besprechen wir die drei Zeiten Gegenwart (Präsens), einfache Vergangenheit (Präteritum oder Imperfekt) und Zukunft (Futur I).
Die drei Nornen führen uns in das Thema ein. Wir erleben, wie die Zukunft wie in einer Sanduhr durch die Gegenwart läuft und in die Vergangenheit übergeht. Für die Kinder ist der bewusste Umgang mit ihrer Muttersprache eine intensive, erdende Erfahrung. Bildlich erleben sie, wie es ist, wenn auf einem Bild ein Schiff an einer Burg vorbeifuhr, gerade vorbeifährt oder später vorbeifahren wird.
Foto Tafelbild: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, „Schiffe und Burg“
Immer wieder mischt sich die „mündliche“ Vergangenheitsform des Perfekt, „das Schiff ist vorbeigefahren“ in unsere Gespräche ein. Aber im Zeitenkreis bleiben die Felder für die zusammengesetzten Zeiten des Perfekt, des Plusquamperfekt und des Futur II noch frei. Am Ende der 5. Klasse werden wir sie besprochen und gefüllt haben!
Foto Tafelbild: halber Zeitenkreis
Wir bemerken bewusst, dass die Verben, die „Tuwörter“, auch die Zeitwörter unserer Sprache sind. Personalisiert durch die Personalpronomen ich, du, er, … drücke ich durch sie aus, welche Zeit ich benenne. „Er kam zu Besuch. Du begrüßt ihn an der Tür. Wir werden den Kuchen bis zum letzten Krümel aufessen.“
Der Stabreim und seine erdende Wirkung werden uns in der 4. Klasse auch nach Abschluss der Deutschepoche zu den Zeiten mit den drei Nornen Urd, Verdandi und Skuld noch weiter begleiten. Mit unseren „Stäben“ aus Haselnussholz üben wir weiterhin, die betonten Anfangslaute des Stabreims wie Wellenkämme auf dem Sprachfluss zu betonen.
Irma Schiefner, Klassenlehrerin Klasse 4